Was ist Treue wirklich?
Ein persönlicher Blick aus meiner Erfahrung als Ehemann und Paartherapeut
Lesezeit: 5 Minuten
Autor:
Alexander Mereien
Paar- und Sexualtherapeut
Gründer von Relatao.de
Beitrag erstellt:
Wenn ich heute über das Thema Treue spreche – in meiner Arbeit mit Paaren oder in Gesprächen mit Freunden – dann merke ich, wie viel Missverständnis, Schmerz und Verwirrung damit verbunden ist.
Für viele scheint klar: „Treue heißt, dass ich keinen Sex mit anderen habe.“ Punkt.
Aber je länger ich mich mit Paarbeziehungen beschäftige – in meinem eigenen Leben und beruflich – desto mehr spüre ich: Das ist zu kurz gedacht. Viel zu kurz.
„Liebe ist die Entscheidung, einem anderen Menschen Raum zu geben – nicht Besitz.“
frei nach Osho
Treue ist kein Verbot – sondern ein inneres Versprechen
Für mich ist Treue kein anderes Wort für Kontrolle, Besitz oder Exklusivität.
Treue ist für mich Verlässlichkeit – ein inneres Commitment, das ich aus freiem Willen eingehe.
Ich sage: Du kannst auf mich zählen. Nicht nur, wenn alles rund läuft – sondern auch, wenn es schwierig wird.
Diese Haltung habe ich nicht aus einem Buch gelernt, sondern über viele Jahre hinweg erfahren. In über 25 Jahren Ehe, in Zeiten voller Nähe und auch in Momenten der Distanz, der Sprachlosigkeit oder Erschöpfung.
Ich weiß, wie leicht es ist, sich in einem funktionierenden Alltag einzurichten – und wie schwer es sein kann, in der Krise verbunden zu bleiben.
Und genau da beginnt für mich Treue.
Nicht das Fremdgehen ist Untreue – sondern das Sich-Abwenden
Ich glaube nicht, dass Sex mit einer anderen Person automatisch Untreue bedeutet. Ich glaube auch nicht, dass emotionale Beziehungen zu anderen Menschen ein Verrat sind.
Untreue beginnt für mich nicht im Außen, sondern im Inneren – da, wo ich mich verschließe, zurückziehe, nicht mehr ehrlich bin. Da, wo ich mich nicht mehr in meiner Verantwortung für die Beziehung sehe.
Ein Baby braucht Erwachsene, die da sind. Die verlässlich reagieren, präsent bleiben, sich kümmern – unabhängig davon, ob das Baby gerade „angenehm“ ist oder nicht.
Diese Art von Beziehung ist einseitig – in einer Paarbeziehung ist das anders. Hier braucht es Gegenseitigkeit.
Ich zeige mich. Du zeigst Dich. Wir tragen gemeinsam Verantwortung für das, was zwischen uns entsteht.
Liebe heißt: Ich will, dass Du frei bist – und aus freien Stücken bleibst
Liebe ist Geben. Wenn ich liebe, dann will ich, dass mein Partner lebt.
Ich will, dass er sich entfalten kann. Dass er glücklich ist. Und dass er sich aus freien Stücken für mich entscheidet – nicht aus Angst, Schuld oder Pflichtgefühl.
Ich will nicht kontrollieren, sondern vertrauen.
Aber: Dieses Vertrauen entsteht nicht von allein. Es will gepflegt, genährt, gestärkt werden.
Und ich selbst habe die Aufgabe, mich meiner Verantwortung für diese Beziehung zu stellen.
Ich kann mich nicht darauf ausruhen, dass mein Partner mir einmal seine Treue versprochen hat.
Treue lebt davon, dass sie immer wieder neu gewählt wird.
Treue ist kein Besitz – sondern eine Haltung
Interessanterweise taucht das Wort Treue im heutigen Eherecht gar nicht mehr auf. Sein Ursprung liegt im Eigentumsrecht – und genau so wird es oft noch verstanden: „Du gehörst mir, also darfst Du dich nicht mit anderen verbinden.“
Aber Menschen sind keine Besitztümer. Und echte Treue lässt sich nicht kontrollieren – sie lässt sich nur schenken.
Treue heißt für mich: Ich bin Dir treu – gerade weil ich frei bin.
Und ich bin auch mir selbst treu.
Ich verliere mich nicht in Erwartungen, in Rollenbildern oder in der Angst, verlassen zu werden. Ich bleibe verbunden – mit mir und mit Dir. Und ich bin bereit, ehrlich hinzusehen, wenn etwas fehlt, statt heimlich zu flüchten.
Lieben kann ich viele Menschen - treu bin ich nur wenigen.
Treue ist etwas Kostbares. Etwas, das ich nicht leichtfertig verteile.
Ich bin mir treu. Meinen Kindern. Und dem Menschen, mit dem ich mich auf eine tiefe Weise verbunden fühle. Nicht, weil ich es muss – sondern weil ich es will. Weil ich in dieser Verbindung wachsen kann.
Und weil ich an seiner Seite sein möchte, auch wenn es stürmt.
Mein Impuls an Dich:
Vielleicht magst Du Dir einmal selbst die Frage stellen:
Was bedeutet Treue für Dich – wirklich?
Hast Du in Deiner Beziehung darüber gesprochen?
Gibt es unausgesprochene Erwartungen, die zu Missverständnissen führen?
Oder wünschst Du Dir, dass sich Euer Verständnis von Nähe, Freiheit und Verlässlichkeit weiterentwickelt?
Wenn Du merkst, dass dieses Thema Euch bewegt, begleite ich Euch gern dabei.
Nicht um vorgefertigte Antworten zu geben – sondern um gemeinsam herauszufinden, was für Euch stimmig ist.
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