Trauma und Beziehung
Wie unverarbeitete Wunden unsere Partnerschaft beeinflussen. Und: Welche Wege zur Heilung es gibt
Lesezeit: 12 Minuten
Autor:
Alexander Mereien
Paar- und Sexualtherapeut
Gründer von Relatao.de
Beitrag erstellt:
Wenn alte Wunden unsere Liebe belasten
Kennst du das: Ein scheinbar harmloser Streit eskaliert plötzlich? Ein unbedachter Satz, und der Boden unter dir fühlt sich unsicher an? Vielleicht reagierst du intensiver, als du möchtest, oder ziehst dich zurück, wenn Nähe entsteht. Oft liegt der Ursprung solcher Reaktionen nicht in der aktuellen Beziehung, sondern in alten Wunden, die wir mit uns tragen – unverarbeiteten Traumata aus der Kindheit oder früheren Beziehungen.
Trauma ist nicht nur das große, offensichtliche Leid. Es zeigt sich auch leise: im Verlust von Vertrauen, in Ängsten vor Nähe oder Zurückweisung und in der Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken. Unsere Partner werden dabei oft zu Spiegeln unserer inneren Erfahrungen – und genau hier steckt die Möglichkeit zur Heilung.
In diesem Artikel erfährst du, wie Trauma Beziehungen beeinflusst, warum es so wirkt und welche Wege es gibt, alte Wunden zu heilen. Auch die Geschichte von Anna und Tom begleitet uns – als Beispiel für die Herausforderungen und Chancen, die in der traumasensiblen Paartherapie entstehen.
Annas Geschichte: Vertrauen und alte Wunden
Anna liebt Tom. Er ist zuverlässig, einfühlsam und liebevoll. Trotzdem plagen Anna tiefe Ängste, dass er sie eines Tages verlassen könnte. Immer wenn Tom mit Freunden unterwegs ist oder nicht sofort antwortet, fühlt Anna einen Stich in der Brust. Sie wird unruhig, ärgerlich und reagiert mit Vorwürfen. Tom ist ratlos: „Warum denkst du, dass ich dich verlasse? Ich bin doch da.“
Was Tom nicht sieht: In Anna wirken alte Muster. Als Kind war sie oft allein. Ihre Mutter war emotional nicht verfügbar, und ihr Vater war selten zu Hause. Damals lernte Anna: „Ich bin nicht genug, um geliebt zu werden.“ Dieses Gefühl der Verlassenheit wird in ihrer Beziehung zu Tom immer wieder getriggert.
Anna steht nicht allein da. Viele von uns erleben in ihrer Kindheit oder früheren Beziehungen prägende Momente, die unbewusst weiterwirken. Diese alten Wunden beeinflussen, wie wir lieben, streiten und Nähe zulassen.
Was ist Trauma? Eine kurze Einordnung
Der renommierte Psychiater und Traumaforscher Bessel van der Kolk definiert Trauma als eine tiefgreifende Verletzung des Nervensystems, die entsteht, wenn Menschen in einer überwältigenden Situation keine Möglichkeit haben zu fliehen oder sich zu verteidigen. Diese Erfahrungen hinterlassen Spuren sowohl im Gehirn als auch im Körper. Eine häufig zitierte Passage lautet:
“Trauma is not just an event that took place sometime in the past; it is also the imprint of that event on mind, brain, and body. This imprint has ongoing consequences for how the human organism manages to survive in the present.”
Sinngemäß übersetzt:
“Trauma ist nicht nur ein Ereignis, das irgendwann in der Vergangenheit stattgefunden hat; es ist auch der Abdruck dieses Ereignisses auf Geist, Gehirn und Körper. Dieser Abdruck hat fortwährende Konsequenzen dafür, wie der menschliche Organismus in der Gegenwart überlebt.”
Bessel van der Kolk
The Body Keeps the Score (2014, S. 21, englische Ausgabe). Deutscher Titel: “Verkörperter Schrecken”.
Was führt zu ist Traumata?
Psychologisch betrachtet bezeichnet Trauma psychische Verletzungen, die entstehen, wenn wir Ereignisse erleben, die unsere Fähigkeit zur Bewältigung überfordern. Hierbei unterscheiden Expert*innen zwischen akzidentiellen und interpersonellen Typ-I- oder Typ-II-Traumata.
Die Tabelle zeigt ein paar Beispiele für beide Typen:
Typ I Traumata (Einmalige Ereignisse) |
Typ II Traumata (Wiederkehrende oder andauernde Ereignisse) |
|
---|---|---|
Akzidetielle Traumaereignisse | Unfall, plötzliche Verletzung, medizinische Notfälle, kurzfristige Naturkatastrophe, Gewalttätige Übergriffe etc. | Lang anhaltender Verlust von Sicherheit, z.B. durch Krieg, Diktaturen, langwierige lebensbedrohliche Krankheiten, chronische Arbeits- oder Lebensgefahren etc. |
Interpersonelle Traumaereignisse | Körperliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, schwerer Verrat, Miterleben von schwerer Gewalt oder Tod, plötzliches Verlassenwerden, Verlust eines geliebten Menschen, Vertrauensmissbrauch durch Autoritäten (z.B. Arzt, Lehrer, Vorgesetzter) etc. | Wiederholte körperliche Gewalt, anhaltende emotionale oder psychische Gewalt, Vernachlässigung in der Kindheit, Leben in gewalttätigen oder unsicheren Umfeldern etc. |
Interpersonelle Typ-II-Traumata resultieren aus wiederholter Gewalt, Misshandlung oder Vernachlässigung durch andere Menschen. Diese Traumata führen oft zu tiefen Beziehungsstörungen, chronischer Unsicherheit und dem Gefühl von Machtlosigkeit.
Auch scheinbar unbedeutende Verletzungen können traumatisch sein
Trauma entsteht nicht nur durch große Katastrophen wie Gewalt oder Unfälle, sondern auch durch subtilere, chronische oder wiederholte Verletzungen des Gefühls von Sicherheit und Bindung. Gerade in der Kindheit können vermeintlich „kleine“ Erlebnisse – wie emotionale Vernachlässigung oder nicht erfüllte Bedürfnisse – tiefe Spuren hinterlassen.
Bessel van der Kolk schreibt dazu:
“Children are particularly vulnerable to trauma because their brains and nervous systems are still developing. When a child feels helpless and unsafe, it can shape the architecture of their brain in ways that have lasting consequences.”
Auf Deutsch (sinngemäß):
“Kinder sind besonders anfällig für Traumata, weil ihr Gehirn und Nervensystem sich noch in der Entwicklung befinden. Wenn ein Kind sich hilflos und unsicher fühlt, kann dies die Architektur seines Gehirns auf eine Weise formen, die langfristige Folgen hat.”
Warum Beziehungen ein Spiegel unserer inneren Erfahrungen sind
Romantische Beziehungen holen uns an unsere verletzlichsten Punkte. Nähe bedeutet, dass wir uns zeigen, wie wir sind – mit unseren Hoffnungen, Ängsten und tiefen Wunden. Genau hier liegt der Schlüssel: Unser Partner wird zum Spiegel unserer inneren Welt.
Haben wir in der Kindheit erfahren, dass unsere Bedürfnisse nicht zählen, fällt es uns schwer, in der Partnerschaft für uns einzustehen. Wurden wir verlassen oder enttäuscht, löst jeder Rückzug des Partners tiefsitzende Angst aus.
In Annas Fall war es die emotionale Distanz ihrer Mutter, die sie heute zweifeln lässt. Toms Abend mit Freunden erinnert sie unbewusst daran, dass Nähe nicht selbstverständlich ist.
Beziehungen sind also nicht nur ein Ort des Glücks, sondern auch eine Gelegenheit, alte Wunden zu erkennen. Denn nur, wenn wir unsere Muster verstehen, können wir sie durchbrechen.
Tiefe Verletzungen und ihre Auswirkungen auf unsere Beziehungen
Traumatische Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend prägen unser Erleben auf eine Weise, die oft unbewusst bleibt. Während Erwachsene die Welt rational erfassen können, sind Kinder stark auf ihre Bezugspersonen angewiesen, um Sicherheit, Geborgenheit und Bindung zu erfahren. Bleibt diese Basis instabil oder wird sie durch Verletzungen erschüttert, entstehen tiefe Prägungen, die das spätere Leben beeinflussen – besonders in unseren engsten Beziehungen. Hier spielen Entwicklungstraumata, komplexe Traumatisierungen und transgenerationales Trauma eine zentrale Rolle.
Entwicklungstrauma: Verletzungen in der Kindheit
Entwicklungstraumata entstehen durch emotionale Vernachlässigung, Misshandlung oder fehlende Bindung in der Kindheit. Für ein Kind bedeutet das: „Die Welt ist unsicher, ich kann nicht vertrauen.“ Diese Muster begleiten uns ins Erwachsenenleben und wirken sich auf Beziehungen aus.
Komplexe Traumatisierungen
Komplexe Traumatisierungen entstehen häufig als Kombination aus Typ-I- und Typ-II-Traumata, wobei sie durch wiederholte oder anhaltende belastende Erfahrungen geprägt sind, die oft in der Kindheit oder Jugend auftreten. Diese Kombination macht sie besonders schwer zu verarbeiten und zu integrieren, da sie sowohl akute Schocktraumata (Typ I) als auch anhaltende Traumatisierungen (Typ II) beinhalten können.
Transgenerationales Trauma
Wenn Eltern oder Großeltern traumatische Erlebnisse nicht verarbeiten können, wirkt sich das auf ihr Verhalten, ihre Emotionen und ihr Bindungsverhalten aus. Oft sind es unausgesprochene Ängste, verdrängte Gefühle oder fehlende emotionale Präsenz, die an die nächste Generation weitergegeben werden. Die Kinder nehmen diese „ungesprochenen Wunden“ wahr, ohne den Kontext zu kennen, und entwickeln dadurch eigene Muster.
Wie können Konflikte in der Beziehung Chancen für Wachstum sein?
Konflikte in einer Beziehung sind schmerzhaft, aber sie bergen eine wichtige Chance: Sie zeigen uns, wo alte Wunden liegen und was wir wirklich brauchen.
Ein Streit um den Haushalt ist selten nur ein Streit um Ordnung. Dahinter steht vielleicht das Bedürfnis nach Wertschätzung oder Unterstützung. Ein Rückzug im Streit mag wie Gleichgültigkeit wirken, ist aber oft ein Schutzmechanismus, um nicht verletzt zu werden.
Wenn wir lernen, Konflikte bewusst zu betrachten, können wir sie als Wegweiser zur Heilung nutzen. Das bedeutet: zuhören, Gefühle benennen und statt Vorwürfen unsere Bedürfnisse klar kommunizieren.
Für Anna und Tom war es der entscheidende Schritt, dass Anna ihre Ängste ansprach, ohne Tom die Schuld zu geben. Sie sagte: „Ich merke, dass ich Angst bekomme, wenn du nicht antwortest. Das hat mit meiner Vergangenheit zu tun, nicht mit dir.“
Tom konnte dadurch einfühlsam reagieren und Anna Sicherheit geben. Genau solche Momente stärken das Vertrauen und die Verbindung.
Die Auswirkungen von Traumata auf die Sexualität
Die tiefgreifenden Auswirkungen von Trauma auf die Sexualität lassen sich durch die Wechselwirkungen von Körper, Nervensystem und Psyche erklären. Traumaforscher haben diese Zusammenhänge intensiv untersucht. Trauma beeinflusst die grundlegende Fähigkeit, Sicherheit, Verbindung und Lust zu erleben. Die Reaktionen reichen von Hypersexualität bis hin zu kompletter Vermeidung, und beide sind oft Schutzmechanismen des Nervensystems.
Der Schlüssel zur Heilung liegt darin, Sexualität in kleinen, sicheren Schritten neu zu entdecken. Das bedeutet: achtsam sein, Grenzen wahren und Druck herausnehmen. Ein behutsamer Dialog über Ängste und Wünsche kann hier ein wichtiger Anfang sein.
Wege zur Heilung: Traumasensible Paartherapie
Ein traumasensibles Vorgehen in der Paartherapie kombiniert idealerweise fundierte therapeutische Methoden, um Beziehungen zu stärken und alte Verletzungen behutsam zu integrieren. Der Fokus liegt darauf, sowohl die Auswirkungen von unverarbeiteten Traumata als auch die aktuellen Beziehungsdynamiken zu verstehen und zu verändern.
Im Zentrum sollte zunächst das Schaffen von Sicherheit stehen. Traumatisierte Partner erleben oft Stressreaktionen wie Übererregung (z.B. Wut, Panik) oder Erstarrung (Rückzug, emotionale Taubheit). Mit körperorientierten Methoden wie zum Beispiel Somatic Experiencing wird das Nervensystem schrittweise reguliert, um ein Gefühl von Stabilität und innerer Sicherheit aufzubauen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sollte die Bindungsarbeit sein. Hier werden die Verbindung zwischen frühen Traumata und heutigen Beziehungsmustern sichtbar gemacht: Was triggert bestimmte Reaktionen? Welche Schutzstrategien haben sich etabliert? Mit emotionsfokussierten Ansätzen lernen Paare, ihre Gefühle achtsam auszudrücken und einander besser zu verstehen. So können destruktive Muster durch neue Bindungserfahrungen ersetzt werden.
Zur Integration traumatischer Erlebnisse können gezielte Methoden wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) zum Einsatz kommen. Solche Methoden helfen, belastende Erinnerungen sanft zu verarbeiten und ihre emotionale Intensität zu reduzieren. Auf systemischer Ebene wird gleichzeitig die Beziehungsdynamik reflektiert und neue Verhaltensweisen werden erarbeitet, die Nähe, Vertrauen und Sicherheit fördern.
Abgerundet wird der Prozess durch eine ressourcenorientierte Haltung, die den Fokus auf die Stärken des Paares legt. Durch praktische Übungen, wie bewusste Kommunikation oder achtsame Berührung, entsteht Raum für heilsame, neue Erfahrungen. So wird die Partnerschaft Schritt für Schritt zu einem Ort, an dem Vertrauen wieder wachsen und Heilung geschehen darf.
Fazit: Eure Beziehung als Weg zur Heilung
Traumata müssen nicht für immer euer Miteinander belasten. In jeder Partnerschaft steckt die Chance, alte Wunden zu heilen und Vertrauen neu zu erfahren. Es braucht Mut, sich verletzlich zu zeigen und hinzuschauen – doch genau hier beginnt der Weg zu einer tieferen Verbindung.
Wenn ihr merkt, dass Trauma eure Beziehung beeinflusst, seid ihr nicht allein. Mit traumasensibler Paartherapie begleiten wir euch dabei, eure Geschichte zu verstehen, eure Liebe zu stärken und einander neu zu begegnen.
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