Trauma, Freiheit und Bindung
Wie alte Wunden unsere Beziehungen steuern
Lesezeit: 5 Minuten
Autor:
Alexander Mereien
Paar- und Sexualtherapeut
Gründer von Relatao.de
Beitrag erstellt:
Viele von uns erleben in Partnerschaften ein scheinbar paradoxes Gefühl: Wir sehnen uns einerseits nach tiefer Verbundenheit – und gleichzeitig andererseits nach mehr Raum für uns selbst. Das kann sich wie ein Gefühl des Zerrissenseins zeigen – man kann nicht ohne den anderen und wenn er da ist, ist er zu viel.
Dieses Spannungsgefühl hat oft seine Wurzeln in frühen Beziehungserfahrungen, die bis heute nachwirken. Vor allem, wenn alte seelische Wunden aus der Kindheit oder Jugend unbewusst in unseren Beziehungen mitschwingen, können sie zu intensiven Konflikten führen.
Intimität ist nichts für Feiglinge. Es verlangt, dass wir uns selbst treu bleiben, während wir uns einem anderen Menschen wirklich zeigen.
David Schnarch
Vereinnahmungs- und Verlassenheitswunden: Zwei Seiten einer tiefen Sehnsucht
Wenn wir als Kinder nicht genug Raum für unsere Entfaltung hatten, wenn unser Wunsch nach Selbstbestimmung unterdrückt wurde, etwa durch überkontrollierende Eltern oder ein rigides Schulsystem, kann daraus eine sogenannte Vereinnahmungswunde entstehen. Sie lässt uns später im Leben empfindlich auf jede Form von Einengung reagieren. Beziehungen werden dann leicht als Bedrohung der eigenen Freiheit erlebt.
Das Gegenstück dazu ist die Verlassenheitswunde. Sie entsteht, wenn wir zu viel Raum bekommen haben – aber zu wenig liebevolle Zuwendung, Führung und emotionale Begleitung. Diese Erfahrung hinterlässt ein Gefühl innerer Leere, das sich im Erwachsenenalter oft in Verlustangst und einem starken Bindungsbedürfnis zeigt. Schon das Ausbleiben einer Nachricht vom Partner kann eine tiefe Verunsicherung auslösen oder als große Kränkung erlebt werden.
Innere Anteile im Konflikt: Der Wunsch nach Nähe trifft auf den Wunsch nach Autonomie
Oft wird davon gesprochen, dass sich bindungsängstliche und autonomieängstliche Menschen magisch anziehen. Was aber viele nicht wissen: In den meisten von uns existieren beide Anteile gleichzeitig – besonders bei Menschen aus unsicheren oder instabilen Bindungsverhältnissen. Wir haben Seiten in uns, die sich nach Geborgenheit sehnen – und andere, die unabhängig sein wollen. Wenn diese Anteile nicht in Kontakt miteinander sind, kommt es zu inneren Spannungen, die sich in unseren Beziehungen entladen.
In vielen Partnerschaften geschieht dann etwas Unbewusstes: Die Rollen werden aufgeteilt. Einer übernimmt den “abhängigen Part” und klammert sich an die Beziehung, während der andere in die “unabhängige Rolle” schüpft und sich zurückzieht. Das Problem daran: Beide agieren nicht frei, sondern aus einer alten Wunde heraus.
PRAXISBEISPIEL 1
Wenn alte Wunden die Gegenwart steuern
Lena und Paul sind seit acht Jahren ein Paar. Seit der Geburt ihres gemeinsamen Kindes vor sechs Jahren leidet Lena immer wieder unter depressiven Verstimmungen. Sie fühlt sich allein gelassen, überfordert, wertlos. Inzwischen ist sie überzeugt: Paul ist Schuld an ihrem Zustand. Sie kritisiert ihn häufig, zweifelt an seiner Liebe und wirft ihm vor, sich zurückzuziehen und sie alleine zu lassen, wenn sie ihn am dringendsten braucht.
Paul hingegen weiß nicht, wie er mit Lenas Depression umgehen soll. Er erlebt ihre Vorwürfe als ungerecht und verletzend. Immer öfter zieht er sich deshalb innerlich und oft auch äußerlich zurück. In Auseinandersetzungen schweigt er und weicht Gesprächen aus. Oft kommt er erst spät von der Arbeit und ist lieber mit seinen Freunden unterwegs als mit ihr. Was Lena als Lieblosigkeit erlebt, ist für ihn ein Versuch, sich selbst zu schützen.
Beide sind in einer Dynamik gefangen, in der ihre alten Wunden sich gegenseitig triggern: Lena reaktiviert mit Pauls Distanz ihre Verlassenheitswunde. Paul wiederum wird durch Lenas emotionale Näheforderung in seiner Freiheitssehnsucht überfordert. Der Ausgang ist ungewiss. Aber die Sehnsucht, einander wieder näherzukommen, ist auf beiden Seiten spürbar.
Trauma verstehen: Was heute passiert, ist oft ein Echo von früher
Was in solchen Situationen passiert, ist keine “Unfähigkeit zur Liebe”, sondern eine unbewusste Reaktion auf alte Verletzungen. Wenn in Beziehungen starke Emotionen aufkommen, wird oft nicht der Erwachsene aktiviert – sondern das innere Kind. Wir machen dem Partner dann Vorwürfe, wo wir eigentlich nach Trost suchen. Wir ziehen uns zurück, wo wir eigentlich präsent sein wollen.
Solche Muster zu erkennen, ist der erste Schritt zur Heilung. Wichtig ist, dass wir lernen, Verantwortung für unsere Reaktionen zu übernehmen, ohne uns selbst zu beschuldigen. Es geht nicht darum, perfekt zu funktionieren, sondern bewusster zu werden.
Was helfen kann: Innere Anteile integrieren und Eskalationen vorbeugen
Ein bewusster Umgang mit diesen Dynamiken beginnt damit, die eigenen inneren Anteile wahrzunehmen und anzuerkennen. In der Begleitung von Paaren arbeite ich häufig mit einem einfachen, aber wirksamen Instrument: Einen Vereinbarung für den Notfall. Darin vereinbaren die Partner, in welcher Weise sie eskalierende Streits frühzeitig erkennen und unterbrechen wollen – etwa durch ein vereinbartes Codewort oder einen Rückzug, der nicht als Ablehnung verstanden werden soll.
Ergänzend dazu hat sich die bewusste Entladung mit einer neutralen Drittperson bewährt. Dabei erzählst Du einer unbeteiligten, wohlwollenden Person, was in Dir ausgelöst wurde – ohne bewertet zu werden, ohne Ratschläge zu erhalten. Diese Form des Gehörtwerdens kann helfen, innere Klarheit zu gewinnen und nicht mehr im “Film von früher” hängenzubleiben.
Fazit: Nähe und Freiheit sind kein Widerspruch
Wenn wir beginnen, unsere Wunden zu verstehen und uns selbst mitfühlend zu begegnen, öffnet sich der Raum für echte Verbindung. Wir müssen nicht wählen zwischen Abgrenzung und Verschmelzung. In einer bewussten Beziehung können beide Bedürfnisse Raum finden: der Wunsch nach Nähe und der Wunsch nach Freiheit.
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